Wen schockt die mangelnde Lesekompetenz eigentlich noch?
Die Frage ist berechtigt: wer ist denn eigentlich noch geschockt über die Pisa-Ergebnisse? Nur weil es in den Medien so übertitelt wird, stimmt es denn auch wirklich, dass die Allgemeinheit, die Wirtschaft, die Bildungsanstalten, die Politik geschockt sind? Geschockt über mangelnde Lesekompetenz; geschockt über die Kluft zwischen Kindern aus armen und reichen Elternhäusern; geschockt über den Unterschied zwischen Kindern aus einem bildungsfernen und einem bildungsnahen Umfeld. Würden uns die Pisa-Ergebnisse tatsächlich so entsetzen, hätten wir dann nicht schon längst was geändert? Oder dauert die Schockstarre einfach so unglaublich lange – nämlich genau bis zu nächsten Pisa-Studie?
Zentraler Punkt: Lesekompetenz
Einen zentralen Punkt, den die Pisa-Studie abbildet, ist die Lesekompetenz. Damit ist folgendes gemeint:
- Geschriebene Texte verstehen, anwenden, über sie nachdenken und sich mit ihnen beschäftigen
- Dadurch seine Ziele erreichen, sein Wissen und Potenzial weiterentwickeln und am gesellschaftlichen Leben teilhaben
Untersucht wird in den Studien, ob die Jugendlichen Texte verstehen und einordnen können, denen sie in ihrem Alltag begegenen. Dabei konzentrieren sich die Studien auf drei Bereiche:
- Texte finden und auf sie zugreifen
- Texte interpretieren und einordnen
- Texte reflektieren und evaluieren
Bleiben wir gleich beim beim ersten Punkt: Geschriebene Texte verstehen.
Ob aus eigenem Interesse, oder weil uns jemand den Auftrag gegeben hat – wenn wir uns einem Text widmen, wollen wir ihn verstehen. Um einen Satz zu verstehen und darauf aufbauend den Sinn eines Absatzes, ist es nötig unser Kurzzeit-, oder Arbeitsgedächtnis richtig zu nutzen.
Vom Wort zur Wortgruppe
Der amerikanische Psychologe George A. Miller hat 1956 herausgefunden, dass wir in unserem Arbeitsgedächtnis drei bis sieben Elemente abrufbereit halten können. Und jetzt kommt der Trick: wir können selbst bestimmen, wie diese Elemente aussehen sollen. Sollen es lediglich einzelne Wörter sein, oder Wortgruppen.
Wenn wir in Wortgruppen lesen wollen, müssen wir uns von einer Lesegewohnheit verabschieden, die wir uns mit dem Lesenlernen antrainiert haben: das Subvokalisieren. Das bedeutet, wir sprechen leise mit. Überprüfen Sie sich einmal selbst und achten Sie darauf ob Sie beim Lesen Ihre eigene Stimme hören. Machen Sie den Test gleich jetzt mit folgendem Text.
An einem Sonntag im Spätsommer des Jahres 1937 zog ein ungewöhnlich heftiges Gewitter über das Salzkammergut, das dem bislang eher ereignislos vor sich hin tröpfelnden Leben Franz Huchels eine ebenso jähe wie folgenschwere Wendung geben sollte. Schon beim ersten fernen Donnergrollen war Franz in das kleine Fischerhaus gelaufen, das er und seine Mutter in dem Örtchen Nußdorf am Attersee bewohnten, und hatte sich tief im Bett verkrochen, um in der Sicherheit seiner warmen Daunenhöhle dem unheimlichen Tosen zuzuhören. Von allen Seiten rüttelte das Wetter an der Hütte. Die Balken ächzten, draußen knallten die Fensterläden, und auf dem Dach flatterten die vom dichten Moos überwachsenen Holzschindeln im Sturm.
© Robert Seethaler, Der Trafikant
Und? Haben Sie ihre eigene Stimme wahrgenommen? Sehr gut – denn dann ist Ihnen jetzt bewusst, was da beim Lesen passiert.
Durch die Subvokalisation verlangsamen wir unser Lesetempo drastisch und geraten so in Versuchung im Text immer wieder zurückzuspringen, weil wir schon vergessen haben, was am Satzanfang steht. Außerdem bestehen 70% der meisten Texte aus den immerselben 400 Grundwörtern, wie „und“, „ist“, „der“, „die“, „das“ etc. Diese leise mitzusprechen bringt überhaupt keinen Vorteil.
Lagern Sie Arbeit an ihr Gehirn aus
Jetzt kommt der zweite Trick: vertrauen Sie Ihrem phantastischen Gehirn. Es übernimmt die Arbeit des Verstehens nämlich ganz von alleine, während Sie beim Lesen schon die nächsten Wortgruppen erfassen. Probieren Sie es aus!
Wenn Sie den Test gemacht haben, werden Sie erstaunt sein, wie viel Sie verstanden haben, obwohl Sie nur über den Text gehuscht sind.
Zurück zu Pisa. Nicht nur unsere Kinder schneiden beim Test der Lesekompetenz nicht so gut ab, wie es möglich wäre. Auch Erwachsene sind in den Lesemustern gefangen, die sie seit Jahrzehnten unbewußt eingeübt haben. Die beiden kleinen Tests die Sie soeben gemacht haben, könnten ein guter Anfang sein sich um ein neues, besseres Lesemuster zu bemühen.
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