Vom Lesen lernen zum Lesen

Um etwas besser zu verstehen, wie unsere Kinder sich das Lesen aneignen, welche Entwicklungsstufen sie dabei durchlaufen und wie man die voneinander unterscheiden kann, habe ich im letzten Artikel begonnen, ein Stufenkonzept genauer unter die Lupe zu nehmen: das 7-stufige Modell von Albin Niedermann und Martin Sassenroth. Heute wird es um die letzten drei Phasen gehen. Kinder Lesen lernen

Wie bei allem, was die kindliche Entwicklung angeht, hat jedes Kind sein ganz eigenes Tempo und Sie können darauf vertrauen, dass es von einer Phase zur andren wandern wird. Dazu braucht es keine besonders ausgeklügelten Programme, die Eltern und Kinder unter Druck bringen. Ein gutes Leseumfeld und eine liebevolle Wahrnehmung, wo Ihr Kind gerade steht, reichen aus.  Kinder Lesen lernen

Das 7-Phasen-Modell – Die Phasen 5 bis 7

In diesen letzten drei Phasen geht es jetzt schon wirklich ums Lesen: vom Entziffern einzelner Buchstaben, über das Zusammenschleifen mehrerer Buchstaben bis zum flüssigen Lesen. Die Kinder beginnen sich ihrer Kompetenz bewusst zu werden. Allerdings sind das auch die Phasen, wo zwischen den Kindern plötzlich große Unterschiede entstehen. Waren bisher alle mehr oder weniger auf dem gleichen Level, so driften die Kinder  – je nach Leseumfeld – jetzt in ihren Fertigkeiten auseinander.  Kinder Lesen lernen

Phase 5 – Vollständiges Synthetisieren

Der Übergang von der 4. in die 5. Phase ist eine immense kognitive Leistung. Jetzt beginnen die Kinder die einzelnen Buchstaben zusammenzuschleifen. Außerdem sind sie jetzt in der Lage auch unbekannte Wörter zu entziffern.  Das tun sie auch – und das ist gut zu wissen – bei bereits bekannten Wörtern. Wir müssen also nicht ungeduldig werden, wenn das Wort „Haus“ jedes mal von neuem entziffert wird. Das ist ein integraler Bestandteil dieser Phase. Schwierigkeiten machen den Kindern in dieser Phase, die unterschiedliche Benennung der Buchstaben und der Buchstabenlaut (also D wird „De“ benannt) und die unterschiedliche Lautung je nach Stellung im Wort (z.B. das E in Engel wird jeweils unterschiedlich ausgesprochen). Das bedeutet, dass die Kinder oft richtig entziffern, aber das Wort dann ganz anders klingt und sie nicht gleich verstehen, was sie da gerade gelesen haben.

Was jetzt gut ankommt

Es mag komisch klingen, aber gerade jetzt mögen es viele Kinder noch lieber, wenn sie etwas vorgelesen bekommen. Sie selbst müssen doch einiges an Mühe beim Lesen aufbringen und dann genießen sie es umso mehr, wenn sie sich zurücklehnen können. Die „Erst ich ein Stück  dann Du“-Reihe sind in dieser Phase empfehlenswert. Die Schrift ist groß und anhand der Bilder lösen sich auch viele Rätsel, die beim Entziffern entstehen können. Die meisten Kinder lieben es, wenn sie merken, dass sie jetzt schon ganze Seiten selbst lesen können. Wichtig ist, dass Sie immer über das Gelesene sprechen. So können Sie feststellen, ob Ihr Kind alles verstanden hat, was es da gelesen hat.

Beschränken Sie sich beim Vorlesen aber nicht auf diese Geschichten. Das Verständnis Ihrer Kinder für Satzbau, Erzählstränge und auch der Wortschaftz sind ja – das werden Sie schnell merken – schon viel weiter als das, was in den Büchern zum Selbst-Lesen angeboten wird. Also beim Vorlesen können Sie jetzt schon aus den Vollen schöpfen. Probieren Sie aus. Viele Kinder haben ziemlich genaue Vorlieben: nicht alle mögen Abenteuergeschichten, nicht alle mögen Sachbücher, nicht alle mögen Tiergeschichten.

Beim Vorlesen sind jetzt auch die Bilder nicht mehr so wichtig. Die meisten Kinder können schon sehr aufmerksam zuhören und brauchen nur noch wenige bildliche Anker. In Kapitel unterteilte Geschichten sind jetzt kein Problem mehr.  Das einzige Problem ist jetzt, ein Ende beim Vorlesen zu finden. „Bitte noch EIN EINZIGES Kapitel“ werden Sie allerdings oft hören.  Kinder Lesen lernen

Phase 6 – Fortgeschrittenes Erlesen

Dieser nächste Schritt ist wieder ein ganz gewaltiger. Kürzere Wörter werden bereits auf einen Blick erkannt und verstanden. Denn jetzt werden die Buchstaben nicht mehr einzeln zusammengefügt, sondern schon in einzelne Gruppen zusammengefasst. Je länger diese Einheiten sind, desto besser ist auch das Verständnis. Man geht davon aus, dass der Kurzzeitspeicher bis zu 7 Elemente speichern kann. Aus diesen 7 Elementen versucht das Gehirn dann Sinn abzuleiten (deshalb ist ja auch das Lesen in „Chunks“ für das Leseverständnis so förderlich). Es ist also ein Unterschied, wie groß die einzelnen Elemente sind, ob es sich um Silben oder schon ganze Wörter handelt.

Das schnelle Wiedererkennen der Wörter ist natürlich eine Übungssache. Jetzt sollte man dafür sorgen, dass die Kinder mit Spaß bei der Sache bleiben. Normalerweise sorgt die Schule ohnehin für regelmäßiges Üben. Aber auch zu Hause sollte das jetzt zur Routine werden. Bringen Sie möglichst oft das Wort „Üben“ ins Spiel, wenn es um Ihre eigenen Fertigkeiten geht – egal worum es sich handelt.

„Warum kannst Du so schnell Zwiebeln schneiden?“ „Weil ich es geübt habe.“

„Warum kannst Du so schön schreiben?“ „Weil ich es geübt habe.“ Kinder Lesen lernen

Nicht weil Sie älter sind, können Sie diese Sachen, sondern weil Sie sie geübt haben. Es ist wichtig für die Kinder, das zu verstehen. Denn in der nächsten Phase – da macht das Lesen dann nur noch Spaß. Aber ohne Phase 6 wird es die Phase 7 nicht geben. Kinder Lesen lernen

Was jetzt gut ankommt

Für das Üben sind nach wie vor Geschichten mit kurzen Kapiteln, relativ großen Buchstaben und Bildern sinnvoll. Aber: jetzt können Sie schon nach dem Vorlesen von ein oder zwei Kapiteln (vielleicht auch unter einem Vorwand – das sei mal erlaubt), aufhören vorzulesen. Viele Kinder wollen dann nicht warten, bis die Erwachsenen wieder Zeit haben und lesen selbst weiter. Wenn Sie dann auch noch neugierig fragen, wie es denn in der Geschichte weitergeht, ist das ein toller Ansporn. Die Altersangaben auf den Büchern geben einen guten Hinweis. Lassen Sie Ihre Kinder aber auch selbst aussuchen. Sie lernen dadurch, sich selbst einzuschätzen. In einer Bücherei haben sie die ganze Palette an Möglichkeiten. Vielleicht kommt Ihre 7-jährige Tochter mit einem Buch für 11-jährige unter dem Arm. Packen Sie es ein und seien Sie neugierig, was passiert.

Ganz wichtig: beurteilen Sie nicht, welche Lektüre Ihr Kind auswählt. Der Satz „Das ist doch langweilig“ ist für Kinder gleichbedeutend mit „Du bist langweilig“. Natürlich können Sie aber sagen, wenn Sie auf ein Buch auch mal keine Lust haben. Aber ohne Bewertung. Schlagen Sie einfach ein anderes vor.

Vielleicht greift Ihr Kind manchmal noch zu den Kleinkinderbüchern. Das ist in Ordnung. Es wird auf jeden Fall auch daraus etwas lernen. Manchmal können wir Erwachsenen gar nicht nachvollziehen, was sich da in den Gehirnen tut. Vielleicht braucht es aber auch nur ein schnelles Erfolgserlebnis. Auch das ist in Ordnung. Lesen lernen

Phase 7 – Flüssiges Lesen

Voilà – geschafft! Die formalen Fertigkeiten sind erworben. Eine beeindruckende Leistung.

Jetzt haben die Kinder die Stufe erreicht, auf der das Lesen – also das Dechiffrieren der Buchstaben – automatisch erfolgt. Ab jetzt können sie sich ganz auf den Inhalt konzentrieren. Vielleicht müssen lange Sätze zweimal gelesen werden und schwierige Wörte noch buchstabiert werden und sicher werden ähnlich aussehende Wörter miteinander verwechselt. Aber im Grunde haben die Kinder jetzt alles gelernt, was sie fürs Lesen brauchen. Jetzt lesen die Kinder auch leise (wobei sie nach wie vor im Kopf mitsprechen – wie ja auch die meisten Erwachsenen).

Was jetzt gut ankommt

Jetzt kommt auf jeden Fall gut an, wenn Sie sich nach wie vor Zeit zum Vorlesen nehmen. Denn Sie haben beim Vorlesen nicht nur eine fehlende Fertigkeit kompensiert, sondern auch für Nähe gesorgt, für ein gemeinsames Erleben und für Gesprächsstoff. Nehmen Sie Ihren Kindern das nicht so schnell weg. Außer natürlich, Ihr Kind will nichts mehr vorgelesen bekommen. Es könnte dann umgekehrt sein, dass Sie  das Ende des Vorlesens schade finden.

Thematisch gibt es keine Einschränkungen. Manche Kinder interessieren sich nur für ein ganz bestimmtes Thema und wollen immer wieder darüber lesen; andere Kinder wirken wahllos und scheinen keine Präferenzen zu haben. Manche verschlingen Comics, andere können damit gar nichts anfangen. Jetzt heißt es eine gute Balance zu finden zwischen Anbieten und Selbstauswahl. Auf das Anbieten bestimmter Bücher würde ich nicht verzichten, denn die Kinder können selbst noch gar nicht wissen, was es alles an Lesestoff gibt. Aber seien Sie nicht enttäuscht, wenn Ihre Auswahl nicht auf Interesse stößt. Es ist lediglich ein Hinweis auf die Vorlieben Ihrer Kinder.

Was vielen Kindern jetzt Spaß macht, ist die die Lesefertigkeit im Alltag umzusetzen. Also z.B. nach Rezept kochen, backen oder basteln. Da kriegen sie den praktischen Nutzen mit und merken, wieviel Unabhängigkeit sie damit gewonnen haben.

Kinderzeitschriften sind auch eine tolle Sache. Fast jedes Magazin hat einen Ableger für kleine Leser. Im Internet gibt es eine große Auswahl. Regelmäßig die eigene Zeitschrift zu bekommen – das ist ja schon wie bei den Erwachsenen. Bevor Sie allerdings gleich abonnieren, testen Sie das Interesse gut aus. Lesen lernen

 

 

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192 Seiten, EUR 16,80

Prof. (a.o.) Göran Askeljung ist Autor und Inhaber von BrainRead, Geschäftsführer und Senior Trainer bei Askeljung.com und immediate effects, Certified Facilitator und Partner von Consensus in NY, und Leitet Consensus Österreich und Deutschland. Er ist Professor am Institut für Sales & Negotiation am Georgian School of Management, Vorstandsmitglied in der Schwedischen Handelskammer in Österreich und Mitglied des Beirats von WdF. Er war früher u.a. als Managing Director von Microsoft MSN in Österreich und Geschäftsbereichsleiter von Ericsson Data CEE in Wien tätig. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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