Lesen macht dumm! Wer behauptet denn sowas?

Ernst Pöppel, Professor für medizinische Psychologie in München, formuliert diese ketzerische Aussage. Als ich zum ersten Mal auf seine Thesen gestossen bin, habe mir nicht die Mühe gemacht, weiterzulesen. „So ein Quatsch“ dachte ich und schon war der Artikel weggeklickt. Ich war sogar leicht verärgert. Da recherchiert man regelmäßig für Artikel pro Lesen und dann sowas.

Erst Monate später ist mir der Artikel wieder in den Sinn gekommen. Direkt erfrischend fand ich den Ansatz jetzt. Ja, warum eigentlich nicht mal fragen, ob das Lesen wirklich so eine gute Sache ist?

Der renommierte Hirnforscher wird teilweise sehr deutlich. „Das Gehirn wird durch Lesen vergewaltigt“ sagt er in einem „Zeit Online“ Interview. In seinem Buch „Dumm und dümmer“ behauptet er sogar, dass Lesen dumm macht. Aber man muss natürlich schon genauer hinschauen, was er damit konkret meint.

Seine These: Das Gehirn ist nicht fürs Lesen vorgesehen. Es ist eine künstliche Fähigkeit, für die wir Teile unseres Gehirns zweckentfremden müssen. Diese Teile sind aber dann nicht mehr für die Fähigkeiten verfügbar, für die die Natur sie eigentlich vorgesehen hat. Kurz gesagt: Wenn wir lesen vermehren wir nicht unsere Fähigkeiten, sondern wir tauschen nur aus. Oder noch schlimmer – wir vermindern sie. „Was könnten wir nicht alles, wenn wir nur nicht lesen müssten“ – so seufzt Pöppel provokant auf seiner Website.

Und es wird noch besser. Warum Kinder die Welt intensiver und auch freudvoller wahrnehmen als Erwachsene? Nicht etwa, weil sie einfach jünger und unbedarft und unerfahren sind. Nein. Weil sie nicht lesen!

Das sitzt, oder?

«Menschen, die ohne Lesenlernen aufwachsen, haben eine intensivere Wahrnehmung der Welt als Menschen, die ihre Zeit über Bücher gebeugt in Zimmern verbringen».  Nun, das kann man durchaus nachvollziehen. Natürlich erlebe ich z.B. einen Waldspaziergang stärker, wenn ich ihn selbst unternehme und nicht nur darüber lese. Aber es geht Pöppel nicht allein darum, primäre Erlebnisse (selbst erlebt) mit sekundären (darüber gelesen) zu vergleichen. Pöppel beobachtet vor allem misstrauisch, wie wir den Wissenszuwachs durch Lesen über alles andere stellen und dabei urmenschliche Kompetenzen vernachlässigen und verlieren.

Pöppel stellt die Frage, warum wir die Kulturtechnik Lesen derart glorifizieren und ihren Verfall so ängstlich zu verhindern suchen. Vielleicht tut die digitale Revolution uns und unseren Gehirnen sogar einen Gefallen, wenn wir dadurch weniger lesen? Die bildliche Darstellung, v.a. durch Videos, erlaubt es unserem Gehirn endlich wieder so zu lernen, wie es ursprünglich vorgesehen war.

Wobei uns das Lesen behindert

Durch unsere Faktenhörigkeit beschneiden wir uns selbst ganz empfindlich. Denn zwei weitere Wissensformen zapfen wir gar nicht an: das bildliche Wissen und das intuitive Handlungswissen. Intuition ist eine angeborene Kompetenz. Es ist die Fähigkeit sich selbst und der eigenen Wahrnehmung zu vertrauen und mit offenen Augen und Ohren durch die Welt zu gehen. Aber sie muss genutzt werden, damit sie nicht verkümmert. Heute besuchen wir Seminare und lesen Bücher darüber, wie wir wieder Zugang zu unserem Bauchgefühl finden.

Pöppel führt es auf die Trennung von Leib (Gehirn) und Seele zurück. Diese Trennung konnte erst durch die Schrift und das Lesen geschehen.

Nachdenken. Auch das ist eine Kunst, die wir heute lieber durch Lesen ersetzen. Der Gedanke dahinter ist wohl, dass schon alles mal gedacht wurde und wir nur suchen müssen. Frage ins Netz eingeben und auf die Antworten warten. Das führt zu absurden Auswüchsen, von denen Internetforen leben. Meine Lieblingsfrage, die – kein Witz – mal gestellt wurde, war: „Ich habe aus Versehen statt einem Becher saurer Sahne zwei gekauft. Wer hat eine Idee, was ich damit machen kann.“

Ich lass das jetzt mal kommentarlos wirken.

Wenn wir aber weniger nachdenken – auch über so kleine Probleme wie doppelt gekaufter saurer Sahne – verlieren wir auch etwas ganz Entscheidendes: unsere Problemlösungskompetenz.

Fazit: Ergänzende Strategien sind nötig

Nun ist Pöppel natürlich klar, dass das Lesen ein Teil unserer Gesellschaft bleiben wird. Er fordert ergänzende Lernstrategien, die unserem Gehirn, aber auch unserer Seele mehr entsprechen. Viel Stoff zum Nachdenken, würde ich meinen.

 

 

 

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Prof. (a.o.) Göran Askeljung ist Autor und Inhaber von BrainRead, Geschäftsführer und Senior Trainer bei Askeljung.com und immediate effects, Certified Facilitator und Partner von Consensus in NY, und Leitet Consensus Österreich und Deutschland. Er ist Professor am Institut für Sales & Negotiation am Georgian School of Management, Vorstandsmitglied in der Schwedischen Handelskammer in Österreich und Mitglied des Beirats von WdF. Er war früher u.a. als Managing Director von Microsoft MSN in Österreich und Geschäftsbereichsleiter von Ericsson Data CEE in Wien tätig. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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