Die Welt braucht mehr Empathie – ran an die Literatur
„Du verdirbst Dir noch die Augen“ oder „Geh doch mal raus an die frische Luft“ – Sätze, die junge Bücherwürmer manchmal zu hören kriegen. Ich selbst bin von meinen Eltern nie vor zuviel Lesen gewarnt worden. Ich konnte mich ungestört von einem Buch nach dem anderen einsaugen lassen. Mitleiden, mitfiebern, mitfürchten oder mitfreuen mit meinen Heldinnen und Helden, die ich für eine bestimmte Zeit begleiten durfte. Mit meinen Freundinnen und Freunden hatten wir dann genug Stoff, um das eine oder andere Abenteuer nachzuspielen.
Ohne Empathie keine wirkliche Kommunikation
Mitleiden, mitfiebern, mitfürchten und mitfreuen – als Kind kann man das noch viel unmittelbarer. Man wird fast eins mit den Protagonisten. Dabei passiert etwas, dass wir schon immer, aber vielleicht in der heutigen Zeit mal wieder ganz besonders nötig haben: wir entwickeln Empathie.
Ich habe in meinem letzten Artikel ja schon beschrieben, welche Führungskompetenzen vom Viellesen profitieren. Auch vom Einfühlungsvermögen war dort die Rede. Ich finde, der Empathie und wie wir sie durch das Lesen stärken können, gehört ein ganz eigener Artikel gewidmet. Denn: wir können mit gut recherchierten und wohl argumentierten Fakten ausgerüstet sein – wenn wir nicht verstehen, uns in unsere Mitmenschen einzufühlen, nützt uns unser ganzes schönes Wissen nichts. Warum nicht? Weil wir nicht erkennen, ob
- es gerade der richtige Zeitpunkt für unser Anliegen ist;
- der andere uns wirklich verstanden hat, oder nur so tut (damit wir endlich eine Ruhe geben);
- wir gerade dabei sind, in ein Fettnäpfchen zu steigen;
- wir jemanden – vielleicht unabsichtlich – tief verletzt haben;
- das Thema dem anderen unangenehm ist und er oder sie am liebsten flüchten würde;
- wir schon zu lange vor uns hin monologisieren und die Kollegin schon längst innerlich abgeschaltet hat;
- jemand wirklich oder gekünstelt über unsere Witze lacht;
- sich jemand wirklich verstanden fühlt und richtig dankbar ist;
- wir den haargenau richtigen Ton getroffen haben und unser Gegenüber Vertrauen zu uns fasst….
Nun, da ich Sie ja nicht vor mir habe, kann ich nicht empathisch erkennen, ob Sie meine Aufzählungen schon gelangweilt haben. Sicherheitshalber höre ich aber hier auf, obwohl mir noch eine ganze Menge Beispiele einfallen.
Es ist schön, wenn man diese Fähigkeit hat oder sie bei anderen erleben kann. Was auch schön ist: wir können diese Fähigkeit durch eine so angenehme Tätigkeit wie Lesen ausbauen. Ganz nebenbei auf der Couch oder im Bus auf dem Weg zur Arbeit (statt auf dem Smartphone gelangweilt Facebook und Instagramm zu durchforsten)
Sofortiger Effekt
2013 haben Emanuele Castano und David Comer Kidd in einer Studie nachgewiesen, dass das Lesen von Literatur die Theory of Mind verbessert. Die affetktive Theory of Mind bezeichnet die Fähigkeit die Emotionen anderer zu erkennen, die kognitive Theory of Mind die Absichten der anderen ableiten zu können. Mit anderen Worten – die Kunst die Erlebnis- und Gefühlswelt anderer teilen zu können.
In fünf Experimenten konnten die beiden Forscher nachweisen, dass die Lektüre von Literatur – im Gegensatz zur Lektüre von Sachbüchern oder auch leichter Unterhaltungsliteratur – die empathischen Fähigkeiten der Probanden und Probandinnen sofort verbesserte. Unabhängig von Bildung, Alter oder Geschlecht, zeigte das Lesen sofortige, messbare Effekte. Dabei war es relativ egal, um welchen Roman es sich handelte, lediglich das Genre war ausschlaggebend.
Mit Rosamunde Pilcher klappt’s leider nicht
Warum die Unterschiede zwischen Unterhaltungslektüre und Literatur so signifikant sind, erklären die Forscher mit den Charakteren. Während die Heldinnen und Helden in seichten Büchern eindimensional sind und vorhersagbar agieren, sind die Personen in literarischen Werken vielschichtig und ihre Handlungen oft rätselhaft. Sie konfrontieren uns mit unseren Vorurteilen und fordern uns auf, unsere eigenen Erfahrungen mit den Erfahrungen der Handelnden abzugleichen. Als Leser ist man also zur Mitarbeit aufgefordert. Und doch werden verschiedene Leser verschiedene Interpretationen haben. Es ist wie im echten Leben und nicht wie auf einem Landsitz in Cornwall.
Meine persönliche Schlußfolgerung ist: um Empathie zu entwickeln ist es nie zu spät und Lesen ist nicht nur reiner Zeitvertreib. Es bildet Menschen heran, von der unsere und jede andere Gesellschaft nicht genug haben kann. Wenn wir unseren Kindern die Möglichkeit geben, Lesen zu lieben, geben wir ihnen ein wertvolles Werkzeug mit auf den Weg.
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